Meine kurze Jugendzeit
Die Biografie eines Dienstmädchens, 1910 - 1914, Seite 3
Kapitel 1 : Ein unterschiedliches Willkommen
Kapitel 2 : Lob und Tadel
Kapitel 3 : Die grosse Freundin
Kapitel 4 : Gegenseitige Hilfe
Kapitel 5 : Ein neuer Start, 1911/12
Kapitel 6 : Die Kaufmannsgehilfin
Kapitel 7 : Die lustige Seite des Lebens
Kapitel 8 : Mariannes Verehrer
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Die lustige Seite des Lebens

Am nächsten Sonnabend hatte sich Besuch angemeldet. Die Mutter der Hausfrau wollte gerne vierzehn Tage bei ihrer Tochter verweilen. Ja, diese 69jährige Frau war noch sehr rüstig und lebenslustig. Sie war seit 10 Jahren Witwe. Über sie hatte Marianne diese Arbeitsstelle bekommen.

Abends, als sie alle im Wohnzimmer saßen, sagte die alte Dame zu ihrer Tochter : "Sag' mal, ist euer Dienstmädchen auch schon einmal zu einer Tanzbelustigung gewesen ? Sie ist doch schon nächstes Jahr 17 Jahre alt . Sie kann doch nicht immer nur arbeiten, sondern muß doch auch einmal die lustige Seite des Lebens kennenlernen !" Die Tochter machte ein sehr bedenkliches Gesicht. Die Mutter fing an zu lachen und sagte zu ihrer Tochter : "Ja, ich weiß schon, woran Du denkst. Du befürchtest, wenn dieses schwarzhaarige Mädchen mit den großen, dunklen, klaren Augen auf dem Tanzboden erscheint, daß es Dir geraubt wird. Aber dies müssen wir dem Schicksal überlassen. Das Schicksal geht seine eigenen Wege und läßt sich vom Menschen nicht lenken, sondern der Mensch hat zu gehorchen. Morgen ist ja nun beim Gastwirt Arens eine Zusammenkunft von der Gilde, mit anschließender Tanzbelustigung."

Am Sonntagnachmittag beim Kaffeetrinken sagte die alte Dame zu Marianne : "So, mein liebes Mädel, heute abend um 7 Uhr wirst Du von Deinen beiden Freundinnen abgeholt, zu der Tanzbelustigung, die beim Gastwirt Arens stattfindet."
"Aber liebe Frau", sagte Marianne in einem entsetzten Ton, "ich weiß ja gar nicht, was tanzen ist und bedeutet, ich war noch nie zu einer Tanzbelustigung. Ich habe große Angst, daß ich es nicht fertig bringe, ich bin ja nie zur Tanzschule gegangen, wie meine Schulkameradinnen !"
"Oh, Du und nicht tanzen können, das wäre ja gelacht !", sagte die alte Dame belustigt,
"wo doch Dein Vater ein leidenschaftlicher Tänzer ist ! Bei den Gastwirten in Tangstedt habe ich in meinen jüngeren Jahren mit Deinem Vater so manchen Wiener Walzer auf dem Tanzboden getanzt, und dann ist er auch noch ein leidenschaftlicher Linkstänzer ! Also, Mädel, abgemacht !"
Marianne ging seufzend die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Punkt 7 Uhr erschien sie fertig angezogen in der Küche, wo die alte Dame auf dem Küchenstuhl saß.

"Ja, mein liebes Mädel, daß Du noch nicht auf dem Tanzboden warst, das bezeugt Deine Kleidung, in der Du erscheinst. Es hat den Anschein, als wolltest Du einen schönen Spaziergang durch die Natur machen. Denn erstens : einen Hut brauchst Du nicht, denn die Sonne scheint nicht mehr. Dein Konfirmationskleid eignet sich auch nicht dazu, denn darin würde Dir der Schweiß in Strömen von der Stirn laufen. Die großen Stiefel sind viel zu schwer für Deine Fußgelenke und würden Dir nur Schmerzen verursachen. Auch die schwere schwarze Handtasche würde Dir nur lästig werden.
Also gehst Du nochmal nach oben, ziehst das schöne, leichte, hellblaue Sommerkleid an und dazu passend das leichte Unterkleid, was ich Dir zu Weihnachten geschenkt habe. Dann ziehst Du Dir die leichten Lackhalbschuhe an, die Du von mir zum Geburtstag geschenkt bekommen hast. Wenn sie auch schon getragen sind, aber sie sind sehr gut erhalten. Sie sitzen schön bequem und leicht an den Füßen. Dann nimmst Du die kleine Handtasche mit der Perlenstickerei und das weiße Taschentuch, das eine hellblau gehäkelte Umrandung hat, - was Du von der Frau zum Geburtstag geschenkt bekommen hast. Dein Haar befestigst Du mit dem breiten schwarzen Samtband, was Du zu Ostern umhattest und Dir sehr gut zu Gesicht steht und zu Deinem schwarzglänzenden Haar paßt. Das Haar löst sich dann nicht vom Luftzug." Marianne bedankte sich für die guten Ratschläge und ging wieder zurück auf ihr Zimmer.

Als dann die beiden Freundinnen in die Küche traten, um sie abzuholen, da kam sie die Treppe wieder herunter und die Freundinnen meinten : "Oh, Du siehst ja wie eine Prinzessin aus !
Man bekommt es ja mit der Angst, daß Du uns geraubt wirst !"
"Oh, Quatsch !" sagte Marianne laut, "ich habe zwei starke Arme und werde die Räuber schon in die Flucht schlagen und mein Fell verteidigen ! Aber wann müssen wir denn wieder zu Hause sein ?"
Die Mädchen erhielten den Hausschlüssel und sollten Marianne um 12 Uhr wieder abliefern.

Am nächsten Tag fragte die alte Dame Marianne, wie es denn gewesen sei. "Oh, meinte Marianne, "erst hatte ich so etwas wie Hemmungen, aber das war ganz schnell wieder vorbei. Wie ich aber nachher ins Bett steigen wollte, da war mein Hemd so naß, als hätte ich damit in der Badewanne gebadet ! So habe ich ja bei der Heuernte nicht geschwitzt, obwohl es heiß und Hochsommer war, als wie gestern bei Arens auf dem Tanzboden !"

Als dann die nächste Tanzbelustigung war und Marianne um Erlaubnis bat, da fragte die Ehefrau, ob es ihr auch nicht zuviel wird und sie noch Kraft hätte, sie hätte ja schon die große Wäsche ganz alleine fertig gemacht. Marianne meinte : "Oh, das ist wohl nicht so schlimm, ich bin ja jetzt in eine Tanzlehre getreten, da kann ich doch nicht schlapp machen. Es muß ja alles gelernt sein, um dem Partner nicht auf den Fuß zu treten ." Dies hörte die alte Dame und meinte zu ihrer Tochter : "Ich glaube, bei dem, was Du sagst, steckt doch eine Angst dahinter, daß Dir das Mädel geraubt wird ! Aber das wollen wir dem Schicksal überlassen, daran können wir nichts ändern. Sie hat auch ein Recht, die lustige Seite des Lebens kennen zu lernen und ihre Jugendzeit zu genießen."
Ja, und so kam es dann auch, das Schicksal ging seinen Weg.

Mariannes Verehrer

Eines Tages hatte sie für den Maurermeister von der Sparkasse Geld geholt, damit er seinen Gesellen den Wochenlohn auszahlen konnte. Von den beiden Gesellen, die auf ihr Geld warteten, war einer, der schon als Schuljunge frech zu ihr gewesen war. Marianne erkannte ihn nicht gleich, aber er hatte sie gleich erkannt. Er wurde noch frecher und machte einen hinterlistigen Plan, um immer in ihrer Nähe bleiben zu können, um ihre Unerfahrenheit auszunutzen. Er bat seinen Meister um eine Schlafstelle, weil der Weg von Poppenbüttel wo er zu Hause war bis Wilstedt so viel Zeit verschluckte und die Baustelle in Richtung Henstedt war. Er konnte also nun beim Meister wohnen und fuhr nur am Wochenende mit dem Fahrrad zu seiner Mutter.

Auch den Sohn vom Mühlenbesitzer Ahrens traf sie wieder, der sie und den ältesten Bruder mit 9 Jahren in einem großen Pferdeschlitten mit Glockengeläut von Wilstedt nach dem "Dummejahn" gebracht hatte, um sie vor dem scharfen Ostwind und dem Schneetreiben zu beschützen. Als er sie damals aus der warmen Umhüllung befreite, hatte sie ihm aus Dankbarkeit einen heißen Kuß auf seine kalte Wange gegeben.
Als sie bei seiner Mutter Milch für den Maurermeister holte, erkannte er sie sofort wieder und sie empfand immernoch ein Gefühl der Dankbarkeit für ihn.
Wenn Marianne mit ihrer Freundin im Vorgarten in der Laube saß, um Handarbeiten zu machen, saß er viel bei ihnen und leistete ihnen Gesellschaft. Aber leider war es ihm nicht lange gegönnt, er mußte Soldat werden und die Kasernen waren weit entfernt. Er ist dann später in weiter Ferne krank geworden und in einem Lazarett gestorben.

Auch der Bruder der Freundin wurde Soldat, aber er kam jeden Sonntag auf Urlaub nach Hause. So ergab es sich, daß er auch Marianne kennenlernte, denn sie wurde manchen Sonntag Nachmittag bei ihrer Freundin zum Kaffee eingeladen.

Als nun der Maurergeselle merkte, daß noch ein zweiter anfing, um Marianne zu werben, wurde er eifersüchtig. Er wurde noch frecher und gemein, denn er nutzte ihre Unerfahrenheit und eine Gelegenheit aus, bei der sie sich nicht zur Wehr setzen und auch nicht um Hilfe rufen konnte, um ihre gute Stellung nicht zu verlieren. Er "nagelte sie fest", damit sie ihm nicht verlorenging. Als sie dann bitterlich anfing zu weinen, da meinte er, sie solle sich nichts dabei denken, es hätte ja keiner gesehen und gehört und es gehöre nun mal mit zum menschlichen Leben.

Dieser ungezogene Knabe, der schon mit einem Jahr seinen Vater verloren hatte und keine gute Erziehung genossen, sondern wie ein wilder Baum in sein Leben hineingewachsen war, der sie schon als Schulkind geärgert hatte, wurde dann ihr Ehemann und Kamerad für das ganze Leben.



Daß der Mensch einmal aussprechen muß, was ihn bedrückt, ist gesundheitlich von großer Wichtigkeit. Darum schreib es auf Papier :
denn, wer schreibt, der bleibt.
Es ist von Beständigkeit,
schont die Nerven,
erspart viel Zeit und ist billig.

Es ist nicht gut, daß der Mensch so ganz alleine ist und in der Einsamkeit dahinlebt. Aber Dein Leben sollst Du achten und ehren, denn
Dein Leben ist kein Spielkasten und Deine
Ehefrau und Lebenskameradin ist keine Spielpuppe.
Denn ein Spiel bleibt ein Spiel und ist nicht von Beständigkeit,
sondern nur zum Zeitvertreib.
Das wirkliche Leben ist ernst zu nehmen.
Es hat seine ernste Aufgabe zu erfüllen.
Strebsinn, Ehrlichkeit und Gerechtigkeit sind die Bausteine und das Fundament
zu einem gesunden, langen Leben
und um den Familienfrieden zu erhalten.


Niedergeschrieben von einer 74jährigen Ehefrau und Mutter,
die elf Kindern ein gesundes Leben schenkte.


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© Peter Dörling

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