Meine kurze Jugendzeit
Die Biografie eines Dienstmädchens, 1910 - 1914, Seite 3
Kapitel 1 : Ein unterschiedliches Willkommen
Kapitel 2 : Lob und Tadel
Kapitel 3 : Die grosse Freundin
Kapitel 4 : Gegenseitige Hilfe
Kapitel 5 : Ein neuer Start, 1911/12
Kapitel 6 : Die Kaufmannsgehilfin
Kapitel 7 : Die lustige Seite des Lebens
Kapitel 8 : Mariannes Verehrer
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Ein neuer Start, 1911/12

Marianne hatte sich auf den Rat der Großmutter G. eine neue Kommode für ihre Kleider und die Leibwäsche gekauft. Wenn auch der Gemeindevorsteher ihren Jahreslohn der Sparkasse in Glashütte überwiesen hatte, so hatte Marianne doch noch so viel von ihrem Taschengeld übrig. Bei den Geburtstagsfeiern und den Zusammenkünften waren immer sehr zahlreich Gäste erschienen, auch der Postmeister von Glashütte mit seiner Frau, und sie erhielt immer viel Trinkgelder, mit denen sie sparsam umging. Wenn Marianne auch einen guten Teil ihrer Mutter zur Verfügung gestellt hatte, für Kleiderstoff, damit sie den beiden Geschwistern Else und Louise zu Weihnachten neue Kleider nähen konnte, so war noch ein guter Teil vorhanden, für die Kommode, Stoff für 3 Arbeitskleider und 4 Schürzen.
Diese fertigte sich Marianne auf der Nähmaschine selber an, Mutter und Großmutter leisteten etwas Hilfe dabei.

Nun wurde Marianne mit Pferd und Wagen, die dem Vater vom Gutshof zur Verfügung gestellt waren, zur zweiten Arbeitsstelle nach Wilstedt gebracht. Sie wurde empfangen, als käme die eigene Tochter von einer großen Reise zurück. Alle ließen ihr eine warme Nächstenliebe entgegenstrahlen, der Kaffeetisch war festlich gedeckt, mit schönem Butterkuchen, Hirschhörnern, dazu Tortenstücke mit Schlagsahne und selbst eingemachten Erdbeeren verziert. Auch die alte Dame war anwesend, denn sie war ja die Mutter und wollte teilnehmen am Empfang dieses kleinen schwarzhaarigen Mädchens, das aus einer kinderreichen Familie stammte und ihre Kinderzeit zwischen Tannenwäldern, Moor und Heide verleben mußte und dessen Vater ein Tagelöhner auf dem großen Gutshof Tangstedt war. Sie aber machte mit ihren großen, dunklen, klaren Augen und den dicken, langen, tiefschwarzen Zöpfen, die ihr über den Schultern hingen, den Eindruck, als käme sie aus einer Fürstenfamilie.

Der Hausherr auf ihrer zweiten Arbeitsstelle war ein Maurermeister und führte ein Baugeschäft. Er hatte vier Lehrlinge, die bei ihm das Maurerhandwerk lernten. Da die Elternwohnungen sehr weit entfernt waren, so wohnten und aßen sie bei ihrem Meister. So ergab es sich, daß im Haus viel Arbeit vorhanden war. Wenn auch die Ehefrau mit Hand anlegte, so war trotzdem für Marianne die Zeit sehr bemessen, um am Tage alles zu schaffen.
Der Maurermeister hatte dazu einen großen Schweinestall, der enthielt sechzig Jungschweine und Ferkel, die er zum Verkauf mästete; dazu noch eine Milchkuh und Kälber. Auch hatte er noch einen kleinen Kohlen- und Schrothandel dabei. Wenn dann keine Männer im Haus waren, dann mußten Marianne und die Hausfrau die Kundschaft bedienen.

Marianne war die alleinige Hilfe in dem großen Haus mit 6 Zimmern, Küche und Keller. Dann waren auch noch 2 kleine Kinder vorhanden. Die Ehefrau mußte viel im Bett liegen, weil sie von einer schweren Lungenentzündung noch sehr geschwächt war. So kam alles unter den Schutz von Marianne. Aber sie hatte ja von ihrem Vater in ihrer Kindheit das Arbeiten gelernt, deswegen hatte sie auch keine Angst davor.
Als die Ehefrau ihr ein großes Zimmer zeigte, mit großen, breiten Fenstern, durch die man auf die Hauptstraße sehen konnte, über die Dächer der Wohnhäuser bis zum großen Buchenwald, und ihr das Zimmer übergab : "sie könne es als ihr eigenes Zimmer betrachten", da kam es ihr so zu Bewußtsein, als wäre sie aus einem Gefängnis entlassen und im Fürstenhaus gelandet. So groß war der Unterschied zur ersten Arbeitsstelle. Die Menschen, die ihr hier entgegentraten, waren alle freundlich und lieb zu ihr und die hellen, warmen Sonnenstrahlen, die durch das große Fenster kamen, gaben ihr die Kraft, die neue Arbeit mit frischem, fröhlichem Mut anzunehmen. Wenn ihr etwas unbekannt vorkam, wurde ihr alles in Güte gezeigt und erklärt. So hatte sie sich schon in kurzer Zeit gut eingearbeitet.

An einem Sonntagmorgen, als der Maurermeister mit einem Zimmermeister auf dem Hof stand und sie sich unterhielten, sagte der Maurermeister : "Was sagst Du zu meiner neuen Hilfe, habe ich da nicht in einen Glückstopf gegriffen ?" Der Zimmermeister antwortete : "Ja, das kann man wohl mit Recht sagen. Wenn man jetzt am Sonntag bei Dir vorbeikommt, dann ist hier alles blitzeblank, das Haus wie der Garten und der Hof. Dein Garten ist ja, als wenn ein Gärtner ihn in Aufsicht hat, Deine Stallungen und der Hof, als wenn Du einen neuen Verwalter bekommen hättest. Wenn man dann Dein Haus betritt, ist es, als wenn da zwei Scheuerfrauen drinnen gewirkt haben. Wie schafft sie das alles, sie ist noch so jung !"
Marianne holte gerade das gekochte Schweinefutter aus dem Keller und kam die Treppe herauf, sie hatte alles gehört. Sie grüßte freundlich und sagte fröhlich zu dem Zimmermeister : "Ja, da müssen Sie wohl meinen Vater fragen, denn von ihm habe ich in der Kinderzeit gelernt, wie man die Arbeit einteilen und anfassen muß, um damit fertig zu werden. Schon mit 9 Jahren mußte ich meinem Vater bei der Torfarbeit auf dem Glashütter Moor hinter dem großen Tannenwald behilflich sein. Es waren leichte Arbeiten in den ersten Jahren, die meinen Kräften entsprachen, aber es hat mir stets viel Freude und großen Spaß gemacht. Mein Vater hat mich die Arbeit und die Nächstenliebe gelehrt, und mit den schönsten Lehrsätzen Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit und fröhlichen Strebsinn gepriesen, dazu den Grundsatz : leben und leben lassen !"

Da sah der Zimmermann der Maurermeister an und wußte nicht, was er dazu sagen sollte. Der Maurer trat an Marianne heran und sagte mit erstauntem Ton : "Mein liebes Kind, befolge den guten Rat Deines Vaters, so brauchst Du keine Angst zu haben, daß es Dir im Leben einmal schlecht ergehen wird. Wir danken Dir für Deine Offenheit und die gute Lehre, die Du uns gegeben hast."
Marianne ging fröhlich wieder an ihre Arbeit, denn die Tiere im Stall hatten ihre Stimme erkannt , ließen sich hören und wollten gefüttert werden.

Wie nun ein halbes Jahr vergangen war, stellte sich bei Marianne eine Ermüdung ein, das kam besonders in der Mittagszeit zum Vorschein. Wenn sie mit der Aufwäsche beschäftigt war und die Finger in das warme Wasser kamen, dann ging ein Zittern durch den ganzen Körper. Die Finger versagten, konnten die Teller nicht halten und es gab auch mal Scherben. Sie konnte sich nicht auf den Beinen halten und mußte sich auf den Küchenstuhl setzen.
Wenn sie am Sonnabend Pfannkuchen gegessen hatte, mit eingemachten Johannisbeeren und in ausgelassenem Speck gebraten, dann gab der Magen das Fett wieder von sich, vermischt mit einer gallenartigen, bitteren, grünlichen Flüssigkeit. Als das mehrmals vorkam, nahm der Maurermeister in Probe davon mit einem Taschenmesser in eine Streichholzschachtel um es einem bekannten Arzt zu überreichen. Er sollte feststellen, was in Mariannes Magen vor sich ging. Der Maurermeister sagte ihr : "Bevor Du uns ernstlich krank wirst, läßt Du hier alles so stehen und liegen und gehst nach oben und legst Dich ein bißchen aufs Bett. Wenn es Dir in einer Stunde besser geht und Dein Körper sich beruhigt hat, kannst Du ja die Arbeit wieder aufnehmen." Am nächsten Morgen, als er vom Arzt zurückkam, sagte er ihr ." So, jetzt gehst Du in den Keller und holst mir eine Flasche schwarzen Johannisbeersaft, auf den ihr den Kümmel gegossen habt, möglichst den ältesten." Dann mußte sie ein kleines Kümmelglas aus dem Küchenschrank holen und er goß sich den roten Kümmel ein, um zu prüfen, ob seine Frau Zucker daran getan hätte. Der Arzt hatte nämlich betont, möglichst ohne Zucker. Dann goß er Marianne ein Glas ein, das sie aber verweigerte, denn sie war der Meinung, daß sie als kleines Mädchen keinen Kümmel trinken darf. Da sagte der Maurermeister ruhig und ernst : "Ich habe dem Arzt erzählt, wie Deine Mahlzeiten in Deiner Schulzeit zu Hause, dann nach der Schulentlassung und jetzt hier bei uns gewesen sind. Er konnte feststellen, daß Dein Magen durch diese Veränderungen in Unordnung und geschwächt ist und nicht verarbeiten kann, was ihm an zuviel Fett zugeführt wird. Die Galle hilft ihm dabei. Wir müssen nun die Natur zu Hilfe nehmen. Der Kümmel wird aus Korn erzeugt. Die schwarzen Johannisbeeren sind in der Medizin die besten Helfer gegen Magenschwäche und der Kümmel zieht diese Eigenschaft aus den Beeren heraus. Du kannst beruhigt sein, es ist Medizin für Dich und keiner kann zu Dir sagen, Du seist dem Kümmel verfallen. Ich stelle Dir jeden Morgen ein solches Glas voll in die Speisekammer und immer um 9 Uhr trinkst Du es aus."

Als dann ein halbes Jahr vergangen war, da war der Schaden wieder in Ordnung Ja, dieser Familienvater war ein guter Mensch,......... wenn er auch manchmal streng und hart sein konnte. Er verdiente nicht soviel Geld, daß seine Frau sich jedes Jahr neue Kleidung kaufen konnte, aber er sorgte vor, daß immer ein gesundes und kräftiges Essen auf den Tisch kam und daß keiner zu hungern brauchte. Er hatte immer zwei Schweine im Stall. Wenn es Zeit war, wurde eines für den Haushalt geschlachtet und eines für den Verkauf, um auch etwas bares Geld zu haben, für Fußbekleidung für den Winter. Vom Gutshof brachte er jeden Tag 3 Liter Milch mit.

Die Ehefrau führte in ihren Kochtöpfen auch eine strenge Ordnung. Wenn es Buttermilch mit Buchweizenklößen gab, dann gab es hinterher Pfannkuchen. Gab es einen Braten mit Gemüse, dann war die Vorspeise Fruchtsuppe. Wenn das Kaffeebrot auch nur mit Margarine bestrichen war, lag doch obenauf der schönste Scheibenhonig. Der stammte vom Großvater, der in seinem Garten Bienenkörbe stehen hatte. So wuchsen diese Kinder zu gesunden Menschen heran.

Die Kaufmannsgehilfin

Es gab nichts, was Marianne nicht anvertraut wurde, sie half den Kindern bei den Rechenaufgaben und wenn der Maurermeister am Sonnabend seinen Gesellen den Lohn auszahlen mußte, dann bekam Marianne den Auftrag, von der Sparkasse die Lohngelder zu holen.
Ja, da bekam Marianne zum ersten Mal viele Goldstücke zu sehen, denn es waren manchmal große Summen, die man ihr vorzählte. Es kam manchmal auch so weit, wenn seine Ehefrau krank zu Bett lag, daß Marianne dem Meister bei den "Preisausschreibungen" Hilfe leistete. Da er keine Schreibmaschine besaß, mußte alles dreimal mit der Hand geschrieben werden.
Dies nahm natürlich viel Zeit in Anspruch und Marianne konnte ihn damit entlasten, daß sie das dritte fertigstellte, was er dann für sich behielt.
Als er eines Abends Kompfschmerzen hatte, sagte sie ihm, er solle sich man eine Stunde zum Schlafen hinlegen, sie werde mit den Abschriften schon alleine fertig. Da sah sie, daß der Meister beim Zusammenrechnen gewesen war. Sie setzte sich an den Schreibtisch und rechnete alles fertig. In kurzer Zeit hatte sie alles geschafft, denn rechnen und schreiben mochte sie in der Schule immer sehr gern und hatte immer "sehr gut" bekommen. Als der Meister sich wieder an seinen Schreibtisch setzte, schüttelte er den Kopf und meinte, es kann doch nicht sein, daß Heinzelmänner auf seinem Schreibtisch gewesen sind.
Marianne lachte und sagte : "Heinzelmänner sind Hühnerglauben, von dem der Hahn nichts weiß. Selbst ist der Mann, wenn er was kann und man ihm vertrauen kann !" - "Also warst Du der Übeltäter ?" - "Oh, habe ich alles verkehrt gemacht und es ist Ihnen unangenehm ?" - "Du hast es großartig gemacht, aber sag mal, woher hast Du die Kenntnisse ?"
Da erzählte Marianne dem Maurermeister, daß der Vater ihres Vaters Eigentümer sei und die Landwirtschaftsschule besucht hätte und der Vater von der Mutter eine eigene Bäckerei hätte und einen Verkaufsladen dazu und seine Meisterprüfung mit "sehr gut" bestanden hatte.
Auch der Vater hätte die Kaufmannsschule besucht und wäre in seiner Jugendzeit im kauf- männischen Beruf tätig gewesen. Sie hätte in lesen, schreiben und rechnen immer "sehr gut" bekommen und bei der Schulentlassung das beste Zeugnis der ganzen Klasse erhalten.
Daß sie ein Jahr später zur Schule gekommen war, hatte ihr nichts ausgemacht. In einem halben Jahr hatte sie das fehlende Jahr schon überholt. Wie sie dann auf Ostern mit versetzt wurde in die Oberklasse, da erhielt sie ein dickes Buch von ihrem ersten Lehrer der Unterklasse, mit schönen Gedichten und Erzählungen aus der Natur und dessen Entstehungen und Waldtieren. Auf der ersten Seite stand in großen Buchstaben :
"Für Fleiß, Gerechtigkeit und ehrlichen Strebsinn.
Zum Andenken an Deinen Lehrer der Unterklasse H. Hannemann.
Volksschule Kirchdorf Tangstedt, Kreis Stormarn "


Der Maurermeister sagte erstaunt : "Ich bin auf den Gedanken gekommen, Dir zu helfen, Deine gute Gaben besser auszunutzen. Ich möchte erst noch mit meiner Frau darüber sprechen, aber würdest Du es annehmen, wenn ich Dich als Hilfe bei den Schreibarbeiten im Baugeschäft ausbilden lasse ?" - "Aber dann muß ich ja die Hausarbeit aufgeben und das kann ich ihrer Frau nicht antun." - "Darüber mache Dir jetzt noch keine Sorgen, jetzt gehe erstmal schlafen."


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© Peter Dörling

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